„Ich schreibe die Geschichten aus der Perspektive der Figuren, in einer Sprache, in der es mir, so hoffe ich, gelingt, ihnen Raum zu lassen, sie nicht einzuengen mit Urteilen und Bewertungen.“ (Wolff, 2021*)

ISBN: 978-3-608-98326-5

Leseprobe

Mit diesem Roman öffnet Iris Wolff in vielschichtiger Weise den Blick für Menschen, Geschichte(n), Momente und Gefühle: In 7 Kapiteln lernen wir Menschen aus vier Generationen einer Familie kennen. Momentaufnahmen, über Generationen hinweg, von Menschen, die in Hermannstadt, im Banat und in Süddeutschland leben, in zeitlicher und räumlicher Distanz, jedoch miteinander verbunden.

Scheinbar beiläufig und mit einer zurückhaltenden Lebendigkeit treten die Familienmitglieder nach und nach in Erscheinung, jeder auf seine Art und fortwährend die anderen durch Bilder oder in Erinnerungen mit sich tragend.

[…] Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran. (S. 22)

Die Empfindungen, die uns überkommen, wenn wir schweigen, gewollt oder ungewollt oder weil es die Situation erfordert oder erträglicher macht: Dieses Gefühl taucht ab der ersten Seite von Wolffs Roman auf und ist ein stetiger und angenehmer Begleiter.

Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick. (S. 41)

Die Zeit spielt ebenso eine gewichtige Rolle, wie die Menschen die mit ihr leben: Sie prägt die politischen und historischen Ereignisse, ebenso wie die räumliche und existenzielle Verortung der einzelnen Personen.

So erscheinen auch die Nebenfiguren nicht also solche, sondern vielmehr als essentieller Bestandteil der Familienmitglieder, Freunde und der Dorfgemeinschaften. Auf wenigen Seiten werden unterschiedliche Perspektiven, Wahrnehmungen und Gefühle beschrieben, jeweils aus den subjektiven Blickwinkeln der Protagonisten und in verschiedenen zeitlichen Ebenen. Das „Unscharfe“ und Unausgesprochenes tritt nicht als „etwas das fehlt“ in Erscheinung. Es lässt vielmehr einen Raum offen, der nicht hinterfragt werden muss und der durch verschiedene geschichtliche und familiäre Ereignisse und die Individualität des Menschen und seiner Sprache erfüllt werden kann.

Identität, Herkunft, Heimat, Politik, Revolution und die Auswirkungen der Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft – dies sind nur einige Themen und Schlagworte, die Wolff aufgreift und unaufdringlich miteinander verflechtet.

Das Ende des Romans ist keineswegs als ein solches spürbar: Präsent sind die einzelnen Augenblicke, die sich als großes Ganzes zusammenfügen, wobei dieses erneut wie eine Momentaufnahme erscheint.

Fazit: Ein poetischer Roman der zeigt, dass die Entscheidungen einzelner Menschen Einfluss auf viele Einzelschicksale und Lebenswege haben. Sprachlich beeindruckend, da vor allem das „Nicht-Erzählte“ besonders nachhaltig in Erinnerung bleibt und die Geschichte ausmacht. Absolut lesenswert! 🙂

* Der Auszug ist aus dem Interview von Florian Wernicke und Pascal Mathéus (Januar 2021).

Webseite https://aufklappen.com/2021/01/11/interview-heimat-ist-kein-ort-aus-dem-man-vertrieben-werden-kann/